18.01.2021
Post-Brexit-Check: 7 häufige Missverständnisse zum neuen EU-UK Handels- und Kooperationsabkommen
Post-Brexit-Check: 7 häufige Missverständnisse zum neuen EU-UK Handels- und Kooperationsabkommen
Während Großbritannien sich in den ersten Wochen der Unabhängigkeit von der Europäischen Union in seiner neuen Situation einfindet, passt sich die Handelsgemeinschaft neuen Regeln und Vorschriften an. Wie so oft in Phasen des Wandels, sind auch beim Brexit einige Missverständnisse aufgekommen – mit potenziell kostspieligen Auswirkungen auf die Supply Chain, wenn keine Klärung erfolgt.
Flexport räumt an dieser Stelle häufige Missverständnisse aus und zeigt, wie neue Strukturen zur Anwendung kommen können. So können Unternehmen Maßnahmen zur Minimierung der Auswirkungen auf Ihre Lieferkette, ergreifen.
Missverständnis #1: Der Brexit-Deal bedeutet, alles geht weiter wie bisher
Als an Heiligabend Einigkeit über das EU-UK Handels- und Kooperationsabkommen (TCA) zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich erzielt wurde, verbreitete sich ein Gefühl der Erleichterung dahingehend, dass Großbritannien ein Stopp vor dem Rand der wirtschaftlichen Klippe gelungen war. Das Abkommen schafft allerdings nicht einfach eine Neuauflage der früheren Abläufe zwischen Großbritannien und der EU.
Realität: Eine Einigung wurde erreicht, aber das Handels- und Kooperationsabkommen deckt lediglich einige Aspekte des Handels zwischen der EU und Großbritannien ab.
Grenzenlosen Handel und die Mechanismen des Binnenmarktes gibt es nicht mehr auf die Weise, wie Unternehmen es von Ende 2020 gewohnt waren. Auch erschafft das Handels- und Kooperationsabkommen keine Zollunion, wie sie etwa zwischen der Türkei und der EU besteht. Innerhalb einer solchen Union können Waren nach einmaligem Entrichten des Zolls zollfrei befördert werden.
Mögliche Folgen: Für sämtliche Sendungen – Importe ebenso wie Exporte – sind nun Zollerklärungen erforderlich. Physische Inspektionen können zu Verzögerungen führen. Wie an jeder anderen internationalen Grenze auf der Welt fallen die zusätzlichen Prozesse auf beiden Seiten des Schlagbaums an.
Der zusätzliche administrative Aufwand bei der Zollabfertigung schlägt sich auf zweierlei Weise nieder: in höheren Kosten für geschäftliche Transaktionen in Großbritannien sowie in Hafenüberlastung.
Einige kleine und mittelständische Unternehmen werden durch die komplexe zolltarifliche Einstufung und Bewertung unter Umständen abgeschreckt, sodass sie sich von Geschäftschancen jenseits der neuen Handelsgrenze abwenden.
Zum Teil lassen sich solche Hindernisse durch eine Kombination aus Automatisierung und Kompetenzpartnerschaften aus dem Weg räumen. Auf der Plattform von Flexport haben Kunden beispielsweise die Möglichkeit, den Waren in Handelsrechnungen EU-Klassifizierungen und/oder britische Klassifizierungen zuzuweisen, die sich nach den SKUs (Artikeln) in der Produktbibliothek richten. Zollmakler können eine genaue Klassifizierung unterstützen.
Myth #2: EU-UK Trade Is Tariff-Free And Quota-Free
Missverständnis #2: Der Handel zwischen der EU und Großbritannien ist zoll- und kontingentfrei.
Die Vorstellung, der Brexit-Vertrag garantiere einen vollständig zoll- und kontingentfreien Handel zwischen Großbritannien und der EU, basiert auf einer zu starken Vereinfachung. Entscheidend ist, wo die jeweiligen Waren hergestellt werden.
Realität: Für Produkte, die in Großbritannien oder der EU hergestellt werden, gilt meistens Freihandel zwischen den beiden Ländergruppen. Die Waren müssen allerdings bestimmte Qualifizierungskriterien erfüllen.
Importe aus China, Japan und anderen Drittländern unterliegen bei einem Handel zwischen der EU und Großbritannien weiterhin den vollen Meistbegünstigungszollsätzen (nach dem Meistbegünstigungsprinzip der Most Favored Nation, MFN).
Die MFN-Zollsätze gelten auch für Produkte, die mit einem erheblichen Anteil an Komponenten oder Rohstoffen aus Ländern außerhalb von Großbritannien und der EU hergestellt werden, selbst wenn die Endfertigung innerhalb von Großbritannien oder der EU erfolgt.
Mögliche Folgen: Für einen großen Teil des Handels zwischen der EU und Großbritannien fallen die vollen Zölle und Kontingente-Beschränkungen an. Dadurch könnten die Verbraucherpreise steigen und die Gewinnmargen der Unternehmen sinken.
Auf der Suche nach Lösungen zum Vermeiden oder Ausgleichen der Zölle verlagern Unternehmen womöglich ihre Produktionsstätten, damit keine Fertigerzeugnisse importiert oder exportiert werden müssen.
Missverständnis #3: Durch Endfertigung in Großbritannien oder in der EU lassen sich Zölle umgehen
Einige Unternehmen hoffen, dass aus Drittländern importierte Waren als Produkte mit Ursprung in Großbritannien oder der EU gelten, wenn die Fertigung dort abgeschlossen wird. Wäre das der Fall, könnten Unternehmen bei bestimmten Gegebenheiten Zölle vermeiden. Leider ist dem nicht so.
Realität: Ein Endfertigungsort führt nicht automatisch zur Ursprungseigenschaft für zollfreien Zugang. Das Handels- und Kooperationsabkommen enthält dazu die Bestimmung „Unzureichende Produktion“.
Dabei ist eine Liste von Verarbeitungsvorgängen aufgeführt, die zur Bestimmung des Ursprungs für zolltarifliche Zwecke herangezogen werden können. Verpacken, Etikettieren, Abfüllen, Anstreichen und Polieren reichen ebenso wie andere Behandlungen nicht aus, um Zölle zu vermeiden.
Einzelheiten sind der Liste in dieser Entwurfsversion unter Artikel ORIG.7, „Unzureichende Produktion“ zu entnehmen.
Mögliche Folgen: Das Deklarieren des Präferenzstatus für Waren, die das Ergebnis einer solchen minimalen Verarbeitung in Großbritannien oder der EU sind, könnte teure Strafen nach sich ziehen.
Viele Unternehmen prüfen vor diesem Hintergrund die Supply Chain auf unzureichende Produktionsprozesse und passen bei Bedarf ihre Bezugsquellen oder ihre Zolldokumentation an.
Missverständnis #4: Der Brexit-Vertrag ersetzt alle anderen Freihandelsabkommen
Da Großbritannien früher automatisch in Freihandelsabkommen der EU einbezogen war, kann Verwirrung darüber entstehen, welche davon jetzt, da das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und Großbritannien in Kraft ist, noch gelten. Zusätzlich verwirrend kann wirken, dass Großbritannien kürzlich Handelsabkommen mit mehr als 60 Ländern beziehungsweise Ländergruppen abgeschlossen hat, die ebenfalls am 1. Januar in Kraft getreten sind.
Realität: Der Brexit-Vertrag gilt nur für den Handel zwischen der EU und Großbritannien und nur für den Handel mit Waren, die in der EU oder in Großbritannien hergestellt werden.
Wie an früherer Stelle erwähnt, fallen für alle in Drittländern produzierte Waren die vollen Zollsätze an – selbst dann, wenn die EU und Großbritannien ein Freihandelsabkommen mit dem betreffenden Drittland haben.
Ein Beispiel: Großbritannien und die EU haben jeweils ein eigenes Freihandelsabkommen mit Japan abgeschlossen (Großbritannien im Oktober 2020 während der Brexit-Übergangsphase). Güter aus japanischer Produktion können also zollfrei nach Großbritannien oder in die EU importiert werden, sofern die Lieferung direkt aus Japan erfolgt.
Werden dieselben japanischen Waren aber zwischen der EU und Großbritannien gehandelt, fallen sie unter keines der drei vorhandenen Freihandelsabkommen.
Mögliche Folgen: Unternehmen werden Bestellungen von Zulieferern in Fernost dekonsolidieren müssen, da in Europa kein zentrales Distributionszentrum mehr für Kunden in Großbritannien und der EU genutzt werden kann. Die Distributionslandschaft in Großbritannien wird sich somit wahrscheinlich stark verändern – man benötigt mehr Lagerfläche. Außerdem können Produkte aus Drittländern, nachdem sie in die EU oder nach Großbritannien importiert wurden, nicht mehr zollfrei zwischen der EU und Großbritannien gehandelt werden.
Missverständnis #5: Die Dokumentation für einen Zollsatz von 0 (%) ist unkompliziert.
Gerüchten zufolge muss als Nachweis für einen Zollsatz von 0% lediglich eine Exportrechnung vorgelegt werden (die sogenannte Lieferantenerklärung). Mitunter wird sogar behauptet, der Importeur müsse lediglich angeben, dass die Waren seiner Kenntnis nach den Anforderungen des Abkommens entsprechen.
Klingt zu schön, um wahr zu sein? Tatsächlich ist es auch nicht wahr.
Realität: Weder die Lieferantenerklärung noch die Eigenangabe des Importeurs laufen nach einem automatischen oder einfachen Verfahren ab. Die Ursprungsregeln sind technisch komplex. Sie nehmen in der Vereinbarung mehr als 70 dicht beschriebene Seiten ein – wohlgemerkt in der Entwurfsversion.
Laut dem Handels- und Kooperationsabkommen muss jeder, der eine Zollsatz-Null-Erklärung abgibt, darauf vorbereitet sein, jederzeit alle entsprechenden Dokumente vorzulegen, mit denen sich die Angaben in der Erklärung belegen lassen.
Werden auch nur ein einziges Mal keine Nachweise übermittelt, können rückwirkend für einen Handelszeitraum von drei Jahren Zölle und Strafzahlungen erhoben werden. Auch könnten Zollbehörden unter Umständen den gesamten für diesen Zeitraum geschuldeten Zoll vom Importeur einfordern – als Folge wären Schadenersatzansprüche oder sogar rechtliche Schritte des Importeurs gegen den Exporteur denkbar.
Verlader müssen zu jedem Produkt einen so gut wie vollständigen Einblick in die Stücklistenspezifikationen haben und entsprechende Aufzeichnungen mitführen:
● Rohstofflieferanten
● Zollklassifizierung für alle einzelnen Komponenten
● Kaufmännischer Nachweis der Fertigungsgemeinkosten
● Eine betriebswirtschaftliche Dokumentation der Gewinnspannen auf Einzelfallbasis.
Mögliche Folgen: Die Kosten der Bereitstellung, Pflege und Archivierung des erforderlichen Herkunftsnachweises sind unter Umständen höher als die finanziellen Einsparungen durch den Null-Zoll-Handel. Auf die meisten Handelswaren erheben sowohl Großbritannien als auch die EU ohnehin schon keine oder nur geringe Zölle; die Zollsätze liegen zwischen 0,5 und einigen Prozent.
Missverständnis #6: Nordirland kann wie zuvor am Freihandel teilnehmen.
Die Verwirrung über den Status von Nordirland hat ihren Ursprung eventuell in der irrigen Annahme, dass Irland, Nordirland und Republik Irland ein und dasselbe seien. Hinzu kommt, dass Nordirland gemäß dem Handels- und Kooperationsabkommen tatsächlich anders behandelt wird als das übrige Großbritannien.
Realität: Kurz gefasst bleiben Nordirland einige Vorteile des Binnenmarkthandels mit der EU erhalten, obwohl Nordirland formell mit Großbritannien ausgetreten ist. Die Republik Irland ist vollwertiges EU-Mitglied, sodass für dieses Land wie zuvor die EU-Freihandelsabkommen zur Anwendung kommen.
Ein kurzer Geografie-Exkurs kann zur Klärung beitragen: Der vollständige Name des im täglichen Sprachgebrauch meist als Großbritannien bezeichneten Staates lautet Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland.
Großbritannien setzt sich aus den Landesteilen England, Schottland und Wales zusammen, während Nordirland, das aus sechs Grafschaften im Norden der geografischen Insel Irland besteht, durch ein Übereinkommen aus dem Jahr 1998 zu einem eigenständigen Land wurde.
Als Teil des Vereinigten Königreichs ist Nordirland aus der EU ausgetreten, aufgrund seiner politischen Vergangenheit erhält das Land aber eine besondere Behandlung.
Ergänzend zu den geografischen Informationen hier noch einige Geschichtsdaten: Als Nordirland ein Teil des Vereinigten Königreichs wurde, einigten sich die Regierungen darauf, dass die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland fast unsichtbar bleiben sollte – ohne Kameras und ohne Grenzposten.
Zu der Zeit, als das Vereinigte Königreich und damit auch Nordirland der EU angehörten, war alles einfach: Personen und Waren konnten die Grenze ungehindert passieren.
Als Kompromiss wurde nun eine Hybridlösung gefunden, die insgesamt (im Gegensatz zu den Grenzen zwischen Großbritannien und der EU) eine weiche Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland ermöglicht. Durch die Irische See verläuft nun eine neue regulatorische Grenze zwischen Nordirland und Großbritannien (mit England, Schottland und Wales).
Wirkung: Da Nordirland viele der EU-Handelsregeln einhält, können Lkw ohne Kontrolle über die Grenze fahren. Einige EU-Rechtsvorschriften gelten weiterhin, etwa der Zollkodex der Union sowie Regelungen zu gesundheitspolizeilichen und pflanzenschutzrechtlichen Kontrollen.
Mögliche Folgen: Lieferverzögerungen zwischen Nordirland und Großbritannien sowie zwischen der Republik Irland und Großbritannien sind wahrscheinlich.
Nach und nach entstehen direkte Fährverbindungen zwischen Frankreich und der Republik Irland, da beide Länder EU-Mitgliedstaaten sind. Fähren werden Lkw-Fahrten ersetzen, bei denen es sonst zu Beeinträchtigungen durch Staus und Zollkontrollen von Großbritannien kommen würde.
Missverständnis #7: Preisnachlässe von Lieferanten haben keinen Einfluss auf den Herkunftsstatus.
Rabatte können Anreize für die Auswahl von Lieferanten schaffen, aber Unternehmen sollten darauf achten, dass sich die Bewertung nicht zu sehr verschiebt.
Realität: Wenn Rabatte den prozentualen Anteil von Rohmaterial ohne Ursprungseigenschaft im Endprodukt verändern, kann sich auch der Ursprungsstatus ändern.
Bei bestimmten Produktkategorien ist laut Handels- und Kooperationsabkommen ein Anteil der Vormaterialien ohne Ursprungseigenschaft von bis zu 50 Prozent am EXW-Wert des Endprodukts zulässig. Entscheidend ist hier der Wertanteil der verwendeten Materialien, nicht der physische Anteil.
Eine Materialliste (Bill of Materials, BOM) schlüsselt den EXW-Wert jedes im Herstellungsprozess verwendeten Rohmaterials nach prozentualen Anteilen auf, ebenso wie andere Faktoren, die zu den COGS (Cost of Goods Sold) beitragen, wie z. B. die Produktionsgemeinkosten und die Gewinnmarge.
Räumt ein britischer Exporteur eines Fertigerzeugnisses nun einem Käufer aus der EU einen Rabatt ein (oder umgekehrt), könnte sich der prozentuale Anteil der Materialien ohne Ursprungseigenschaft ändern, sodass das Produkt potenziell den Präferenzstatus gemäß Handels- und Kooperationsabkommen verlieren würde.
Ein vereinfachtes Beispiel: Angenommen, ein britischer Exporteur verkauft ein Produkt, das Rohstoffe ohne Ursprungseigenschaft im Wert von 49 US-Dollar enthält, für 100 US-Dollar an einen Käufer aus der EU. Das Produkt erfüllt in diesem Fall die 50-Prozent-Regel (da 49 von 100 US-Dollar gegeben sind), und zollfreier Zugang ist gerechtfertigt. Verkauft der britische Exporteur dasselbe Produkt aber aufgrund eines Rabatts plötzlich für nur noch 80 US-Dollar, so haben die Materialien ohne Ursprungseigenschaft einen Anteil von über 50 Prozent (49/80 = 61,25 %) – das Produkt unterliegt nun dem regulären MFN-Drittlandszollsatz.
Mögliche Folgen: Bei einer rabattbedingt falschen Berechnung des Werts von Materialien ohne Ursprungseigenschaft kann ein Zollfehlbetrag entstehen.
Auch wenn es dazu versehentlich gekommen ist, kann die Korrektur kompliziert werden, verbunden mit nachträglichen Änderungen, Audits oder auch dem Verlust von Import- beziehungsweise Exportprivilegien. Einige Unternehmen machen bei fehlerhafter Zollanmeldung durch Lieferanten womöglich Schadensersatzansprüche geltend.
Weitere Informationen über den Umgang mit den neuen Zoll- und Handelsbestimmungen für Großbritannien und die EU finden Sie auf unserer Brexit-Info-Seite. Bei offenen Fragen hilft Ihnen unser Expertenteam Ihnen gern.
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